Im Online-Lebensmittelhandel herrscht Goldgräberstimmung. Eine fast schon unübersehbare Zahl von neuen Anbietern wie Gorillas, Flink, Getir, Knusper oder Picnic drängt zur Zeit auf den hart umkämpften deutschen Lebensmittelmarkt.
Angelockt von den in der Corona-Krise deutlich gestiegenen Online-Umsätzen und finanziert mit hunderten Millionen Euro Wagniskapital machen die Start-ups in immer mehr Städten den etablierten Lebensmittelhändlern Konkurrenz. Oft versprechen die Newcomer die Lieferung bestellter Ware in nur 10 Minuten. Selbst die großen Platzhirsche Edeka und Rewe müssen sich deshalb neu positionieren.
Es geht um einen Milliardenmarkt: Der Online-Lebensmittelhandel gehört zu den größten Gewinnern in der Corona-Krise. Nach dem «Online Monitor» des Handelsverbandes Deutschland kauften die Menschen 2020 rund 60 Prozent mehr Lebensmittel im Online-Handel als vor der Pandemie. Und das Wachstum hätte wohl noch größer sein können, wenn die Lieferkapazitäten nicht an ihre Grenzen gestoßen wären.
Gespielt wird mit hohem Einsatz. Die Lieferdienste Gorillas, Flink und Getir haben in ihren jüngsten Finanzierungsrunden jeweils dreistellige Millionenbeträge von Wagniskapitalgebern eingesammelt, um möglichst schnell in weitere Städte expandieren zu können und sich so einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
Gorillas, Flink und Getir setzen aber nicht nur bei der Expansion auf Tempo. Ihr Versprechen: Die bestellte Ware wird innerhalb von nur 10 Minuten aus dezentralen Lagern in den Stadtteilen per Fahrradkurier geliefert. Flink ist mittlerweile in 19 Städten in Deutschland präsent, Gorillas in 17 Kommunen. Der türkische Express-Lebensmittellieferant Getir will in den kommenden Wochen in Berlin starten. Auch wenn das Unternehmen in Deutschland noch weitgehend unbekannt ist, ist es doch ein Schwergewicht unter den Start-ups. Bei der jüngsten Finanzierungsrunde wurde Getir nach eigenen Angaben mit 7,5 Milliarden US-Dollar bewertet.
Doch ist das Tempo bei der Lieferung wirklich so wichtig? Andere Start-ups lassen sich etwas mehr Zeit. Der tschechische Online-Lebensmittelhändler Rohlik will mit seiner Tochter Knuspr ab Ende Juli von München aus den deutschen Markt aufrollen. Geliefert werden soll innerhalb von drei Stunden. Dafür ist das Warenangebot mit bis zu 16.000 Produkten aber auch deutlich größer als bei Flink oder Gorillas.
Noch mehr Zeit mit der Lieferung lässt sich der niederländische Wettbewerber Picnic. Denn er liefert die Produkte wie früher der Milchmann nur an bestimmten Tagen zu festgelegten Zeiten. So können die Zustellungen in einer Straße oder in einem Viertel gebündelt werden. Das garantiert eine bessere Auslastung der Fahrzeuge und niedrigere Kosten. Geschadet hat das dem Erfolg der Niederländer bisher nicht. Im Corona-Jahr 2020 konnte Picnic die Zahl seiner Kunden nach eigenen Angaben von 50.000 auf 200.000 erhöhen. Jetzt bereitet Picnic die bundesweite Expansion seines Liefernetzes vor.
Die großen Lebensmittelketten Edeka und Rewe beobachten die Entwicklung mit Argusaugen. Die Kölner Rewe-Gruppe, zurzeit nach Einschätzung von Experten Marktführer im E-Commerce-Geschäft mit frischen Nahrungsmitteln, stieg am Freitag sogar mit einer Minderheitsbeteiligung beim Start-up Flink ein. Außerdem wird der Handelsriese exklusiv die Warenversorgung der Berliner übernehmen.
Rewe-Chef Lionel Souque erklärte, es sei zu erkennen, «dass sich das Liefergeschäft mit Lebensmitteln in Deutschland aktuell sehr stark ausdifferenziert». Neben umfassenden Vollsortiments-Anbietern wie Rewe mit bis zu 20.000 bestellbaren Artikeln träten Schnelllieferdienste, die eine kleinere Warenauswahl innerhalb weniger Minuten lieferten. Rewe wolle durch die Kooperation mit Flink von diesem Marktsegment profitieren.
Deutschlands größter Lebensmittelhändler Edeka, der lange Zeit im E-Commerce eher zurückhaltend agierte, setzt dagegen auf eine Beteiligung an Picnic. «Picnic wird der Online-Arm von Edeka werden», sagte Edeka-Chef Markus Mosa kürzlich. Gleichzeitig betonte er: «Wir streben keine Mehrheit an dem Unternehmen an, keine Kontrolle.» Ein so komplexes Geschäft überlasse man am besten denen, die es könnten. «Kein stationärer Händler kann online am Ende besser sein als ein echter E-Commerce-Händler.» Doch sicherte sich auch Edeka eine Schlüsselrolle bei der Belieferung des Start-ups.
Der E-Commerce-Experte Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein hält die Beteiligungsstrategie der Platzhirsche für durchaus sinnvoll: «Wenn das Experiment funktioniert, sorgt es für mehr Wachstum – wenn nicht, ist der Schaden überschaubar.»
Wirklich optimistisch ist er, was die Erfolgsaussichten gerade der Schnelllieferdienste wie Gorillas oder Flink angeht, allerdings nicht. «Es ist nicht auszuschließen, dass das Geschäftsmodell von Gorillas, Flink und Co. funktioniert, aber ich glaube es in bestehender Form nicht. Sie bedienen mit großem Aufwand eine am Ende doch recht kleine Zielgruppe, und bislang hat noch niemand bewiesen, dass man damit in Europa Geld verdienen kann.»
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