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Hannover Messe im Mehrfach-Krisenmodus

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht zu Beginn der Hannover Messe 2022. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Friso Gentsch/dpa)
Erstmals seit 2019 läuft die größte Industrieausstellung wieder über persönliche Kontakte. Die Politik bemüht sich, der Wirtschaft wieder Zuversicht zu vermitteln. Doch die Probleme sind omnipräsent.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Die großen Themen der Hannover Messe 2022 – Klimaschutz, Energieeffizienz, Digitalisierung – waren auch dem Bundeskanzler lange bekannt.

Dass in diesem Jahr aber gleich mehrere aktuelle Krisen einschließlich eines Krieges in Europa auf dem wichtigsten Industrietreffen mit verarbeitet werden müssen, hätten sich vor einigen Monaten selbst die Veranstalter nicht vorstellen können. Olaf Scholz betonte: Der Wandel muss rasch kommen. «Die Pandemie und der Krieg nehmen der industriellen Transformation nichts von ihrer Dringlichkeit», sagte er zur Eröffnung.

Scholz eher zurückhaltend

Die Vision umriss der SPD-Politiker so: Die Industrie soll weniger Ressourcen verbrauchen, weniger Kohlendioxid produzieren, digitaler werden sowie künstliche Intelligenz und Wasserstoff nutzen. Und es sei gut zu sehen, «dass wir mit dieser großen Geschwindigkeit es auch schaffen werden, in ganz kurzer Zeit CO2-neutral zu wirtschaften», sagte Scholz. Deutschlands Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität – darüber hinaus hielt sich der Kanzler auf seinem Messerundgang mit wirtschaftlichen Einschätzungen merklich zurück.

An etlichen Ständen ist ein gewisses Unbehagen zu spüren, fast schon etwas schizophren mutet die Stimmung teils an. Einerseits dürften die weltwirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine – darunter vor allem drastisch verteuerte Energie – den Umstieg von Gas und Öl auf erneuerbare Quellen beschleunigen und so das Geschäft zahlreicher Anbieter begünstigen. Demgegenüber steht allerdings die Befürchtung, zumindest mittelfristig noch eine Weile auf die fossile Rohstoffgroßmacht Russland angewiesen zu sein.

Ist es also echte Zuversicht oder doch eher Zweckoptimismus, der hier zu hören ist? Viele Aussteller geben sich relativ gut gelaunt. Bei Festo etwa, einem Hersteller für Automatisierungstechnik, sind sie zuversichtlich, schon kommendes Jahr an allen 250 Standorten weltweit CO2-neutral arbeiten zu können. Am Messestand des Unternehmens testete Scholz die Beweglichkeit eines Roboters mit pneumatischen Antrieb und lenkte den Roboterarm sanft in verschiedene Richtungen.

Portugal ist Partnerland

Auch die Wiederverwendung von Materialien wird in vielen Bereichen wichtiger. Bei der gemeinsamen Tour mit António Costa, dem Premier des diesjährigen Messe-Partnerlands Portugal, posierte Scholz kurz vor einem Fahrrad, das ganz aus recyceltem Kunststoff besteht.

Von heute auf morgen jedoch lässt sich besonders die Abhängigkeit vom Gas keineswegs auf Null herunterfahren. In der Chemie und auch im Maschinenbau sind diverse Materialien ohne Methan, Ethan und weitere Erdgas-Bestandteile nicht möglich – auch wenn Alternativmethoden allmählich Raum gewinnen. Und das überwiegend meiste Gas kommt eben vorerst immer noch aus Russland, wenngleich mittlerweile weniger als vor ein paar Monaten. Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) sind frühestens zum Jahreswechsel bereit.

Inflation bereitet Kopfzerbrechen

Die Industriebosse selbst wollten sich, den aktuellen Herausforderungen zum Trotz, nicht allzu vergrämt zeigen. Sie wiesen in Hannover aber auf die gestiegenen Risiken für die globale Konjunktur hin. Die rasante Inflation – mitverursacht durch den Kriegsbeginn – hat die Erzeugerpreise mancherorts schon auf mittlere zweistellige Steigerungsraten anschwellen lassen. Verbraucher von Endprodukten müssen ebenfalls zusehen, wie sie mit der für europäische Verhältnisse sehr hohen Teuerung klarkommen. Im Mai lag die Inflation laut Statistischem Bundesamt schon bei 7,9 Prozent.

Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, nahm kein Blatt vor den Mund. «Wir befinden uns in einem schwierigen, bedrückenden, unsicheren Umfeld», sagte er. Dennoch stünden die Mitgliedsfirmen «in der Verantwortung, den Aggressor Russland zu isolieren und unsere Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu überwinden».

Die Gratwanderung besteht darin, bei allem Pochen auf Unabhängigkeit nicht einer Renationalisierung Vorschub zu leisten und das Freihandelssystem insgesamt zu beschädigen. Diese Einsicht gab es bereits bei der zweiten großen Krise der Branche: dem weltweiten Mangel an Mikrochips. Mehr eigene Fertigung in Europa, ohne aber den internationalen Austausch abzuwürgen, lautet die Devise. «Ohne Rohstoffe keine Industrie 4.0 und keine E-Mobilität», betonte Russwurm. «Aber es ist hier eine stärkere Differenzierung nötig.»

Personalmangel in Technikberufen

Bei vielen Elektronikteilen gilt, anders als beim Öl und Gas: Kritische Ressourcen kommen auch aus China, und der Asien-Handel stockt seit neuen Corona-Lockdowns erheblich. Die Lieferquellen müssten vielfältiger werden, mahnte Russwurm: «Es ist einfach vernünftiger, nicht alle Eier in einen Korb zu legen.» Der Präsident des Elektro- und Digitalverbands ZVEI, Gunther Kegel, appellierte, den Welthandel offen zu lassen: «Wir haben gar keine andere Chance.»

Hinzu kommt ein anderer, besonders problematischer Mangel: der an Fachpersonal in Technikberufen. Nach Angaben des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) konnten im ersten Quartal rund 151.300 Stellen nicht besetzt werden. Dabei hätte Deutschland sogar reichlich Potenzial für noch mehr Ingenieure und Informatiker, geht man nach einer Analyse der Beratungsfirma Capgemini. Die Modellierung und Simulation von Prozessen mithilfe digitaler Abbilder («digital twins») halten demnach hierzulande 45 Prozent der befragten Unternehmen für eine strategisch wichtige Aufgabe – global sind es mit 55 Prozent mehr.

Für einen der Gastgeber, Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD), ist die vielzitierte Industrie 4.0 jedenfalls inzwischen weltweit ein Prädikat für Produkte aus Deutschland: «Viele Unternehmen stellen sich wirklich auf das ein, was von ihnen erwartet wird.» Das sei ihnen angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen wie gestörten Lieferketten und der Teuerungswelle hoch anzurechnen.

Von Jan Petermann, Christopher Weckwerth und Mia Bucher, dpa