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Digitale Barrierefreiheit – Teilhabe für alle

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, sitzt in seinem Büro an seinem Tablet. Die Schrift auf seinem Tablet ist vergrößert, damit er sie lesen kann. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Nina Hansch/dpa)
Ob im beruflichen oder privaten Alltag - digitale Angebote sind so wichtig wie nie. Menschen mit Behinderungen können sie aber oft nicht uneingeschränkt nutzen. Doch bei diesen Hürden muss es nicht bleiben.

Soziale Medien, Einkaufen, Terminplanung – gerade in Pandemiezeiten ist die digitale Welt für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil des Alltags. So geht es auch vielen Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen, doch der Zugang zu den Angeboten ist für sie nicht immer selbstverständlich möglich.

«Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension – und die umfasst so viel mehr als die Rampe vor dem Haus», sagt Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung und selbst von Geburt an stark sehbehindert. Ein wichtiger Aspekt: Barrierefreiheit im Netz.

Dusel zufolge leben in Deutschland etwa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Digitale Inklusion bedeute nicht nur, dass jeder ins Netz komme und digitale Angebote nutzen könne, sagt der 56-Jährige. «Es geht auch darum, interagieren zu können, also zum Beispiel mit anderen über soziale Medien Kontakt aufzunehmen.» Wenn man etwa ein Bild veröffentliche, bräuchten sehbehinderte oder blinde Menschen einen beschreibenden Begleittext. Menschen mit kognitiven Einschränkungen seien auf bestimmte Formulierungen angewiesen. «Das ist ohne Probleme machbar, wenn man es weiß», sagt Dusel.

Potenziale der Digitalisierung für alle nutzbar machen

Digitale Barrierefreiheit umfasse Menschen mit verschiedensten Bedürfnissen, sagt Adina Hermann von den Sozialheld*innen, einem Verband, der sich unter anderem für gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion einsetzt. Im Netz müsse man besonders auf Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung achten. Untertitel in Videos oder Audiodeskriptionen seien zum Beispiel wichtig. Aber auch Menschen mit kognitiven Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder anderen Beeinträchtigungen dürften nicht vergessen werden. Diese könne man etwa durch Infos in sogenannter Leichter Sprache besser ansprechen.

Daneben sei es entscheidend, wie gut sich Menschen mit Behinderungen abgebildet fühlten, sagt Hermann, die selbst im Rollstuhl sitzt. Zur Barrierefreiheit gehöre auch, sie in allen gesellschaftlichen Themen etwa in der Medienarbeit und Werbung darzustellen. Die Digitalisierung berge für Menschen mit Behinderungen große Potenziale – die seien aber oft nur nutzbar, wenn Plattformen und Produkte von Anfang an barrierefrei konzipiert seien, mahnen Dusel und Hermann.

Barrierefreiheit als Qualitätsstandard

Im Netz müssten alle Menschen Zugang zu Medien und Informationen haben, betont Dusel. «Sie können sich vorstellen: Wenn Sie sich informieren wollen auf einer Homepage und da ist die Schriftgröße bei 1 oder 2, dann würden Sie wahrscheinlich denken: Wie unprofessionell.» So fühlten sich viele Menschen, wenn sie nicht-barrierefreie Angebote vorfänden. Barrierefreiheit sei nicht nur «nice-to-have». «Es ist ein Qualitätsstandard eines modernen Landes und seiner digitalen Infrastruktur.»

Auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen seien beispielsweise politisch sehr interessiert und würden etwa die Wahlprogramme von Parteien in leichterer Sprache nutzen. Diese müssten im Netz noch präsenter werden, fordert Dusel. Positiv findet er, dass Gebärdendolmetscherinnen und -dolmetscher beispielsweise bei Pressekonferenzen schon viel sichtbarer geworden seien. Hier dürfe es aber nach der Pandemie keinen Rückschritt geben.

Um viele Menschen mit dem Thema erreichen zu können, hat Dusel gemeinsam mit Dorothee Bär (CSU), Staatsministerin für Digitalisierung, eine Konferenz organisiert – mit Workshops um Themen wie eine inklusive Medienlandschaft, barrierefreies Posten auf Social Media oder auch Gaming. «So möchten wir Menschen klarmachen: Bitte denkt Inklusion auch im Netz von Anfang an mit», sagt der 56-Jährige.

Kritiker: Digitale Barrierefreiheit als politisches Problem

In Deutschland sehen viele Kritiker dringenden politischen Handlungsbedarf: «Digitale Barrierefreiheit ist mehr ein politisches als ein technisches Problem», sagt Artur Ortega. Der 49-Jährige ist Softwarearchitekt und hat für Medien wie die Deutsche Presse-Agentur oder den Webdienstleister Yahoo unter anderem in der Gestaltung barrierefreier Services gearbeitet. Aktuell ist er für einen Gesundheitsdienstleister in London tätig. Ortega ist blind.

Die technischen Voraussetzungen für Barrierefreiheit im Netz seien größtenteils längst geschaffen – etwa durch vorinstallierte Funktionen der meisten Smartphones, sagt er. Problem sei aber, dass sich die Hersteller von Apps oder Webseiten oft nicht an die Standards hielten – zumindest in Deutschland. Großbritannien und die USA etwa seien Deutschland bei der Barrierefreiheit weit voraus.

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nur ein Alibigesetz?

Der Bund will mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz die EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit umsetzen. Damit werden auch private Unternehmen verpflichtet, bestimmte digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei anzubieten. Die Anforderungen sollen ab 2025 gelten, etwa bei Selbstbedienungsterminals wie Geldautomaten sind aber Umsetzungsfristen von mehreren Jahren vorgesehen. Laut Sozialministerium ist das Gesetz «ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einer inklusiven Gesellschaft und dient der gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Teilhabe von Menschen mit Behinderungen».

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) kritisiert, Deutschland entscheide sich bei der Umsetzung nur für die «Minimallösung». Rechtsreferentin Christiane Möller hält das Gesetz für «mutlos und unambitioniert» – zu oft blieben Menschen mit Behinderungen im Alltag ausgeschlossen. Ortega fordert klarere gesetzliche Ansprüche, die nicht auf die lange Bank geschoben werden dürften. Zur digitalen Inklusion sagt er: «Das neue „normal“ ist „digital“.» Mit seinen «Alibigesetzen» schließe Deutschland behinderte Menschen aber aktiv aus.

Von Josefine Kaukemüller, dpa